„Der Erinnerungsfälscher“ von Abbas Khider

Anlässlich einer bevorstehenden Lesung von Abbas Khider im Mai habe ich mir dieses Buch im Februar gekauft und habe es binnen von zwei Tagen gelesen – und sehr genossen. Wenn ich ganz ehrlich bin, ohne die Lesung hätte ich es mir vermutlich nicht gekauft, denn der Klappentext klang in meinen Ohren eher nach einem ernsten und bedrückenden Buch. Dass „Der Erinnerungsfälscher“ aber absolut lesenswert und gar nicht so bedrückend ist wie gedacht, davon möchte ich euch heute erzählen.


Über den Autoren
Abbas Khider wurde 1973 in Bagdad geboren. Er floh 1996 aus dem Irak, nachdem er mit 19 Jahren wegen seiner politischen Aktivitäten verhaftet worden war. Er hielt sich danach in verschiedenen Ländern auf, ehe er 2000 nach Deutschland kam. Dort studierte er in München und Potsdam Literatur und Philosophie.
Sein erster Roman, „Der falsche Inder“, erschien 2008, dem viele weitere folgen sollten, wie z. B. „Die Orangen des Präsidenten“ (2011), „Ohrfeige“ (2016), „Palast der Miserablen“ (2020) sowie der neueste Roman, „Der Erinnerungsfälscher“ (2022). Seine Bücher wurden vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Nelly-Sachs-Preis, dem Adelbert-von-Chamisso-Preis oder dem Hilde-Domin-Preis. Heute lebt Abbas Khider in Berlin.

„Im Irak (…) drehen sich die Minutenzeiger nicht über Ziffern, sondern über Wunden.“, S. 8
Über das Buch
Said Al-Wahid sitzt im ICE nach Berlin, als er von seinem Bruder die Nachricht erhält, dass ihre Mutter im Sterben liegt. Er solle nach Hause kommen, nach Bagdad. Zum ersten Mal seit Jahren macht sich Said auf dem Weg in das Land seiner Herkunft. Schon vor Jahren hatte er Bagdad verlassen, war geflohen und hat ein neues Zuhause in Deutschland gefunden – was nicht einfach gewesen war.
Je näher Said seiner alten Heimat kommt, umso mehr erinnert er sich an früher und umso weiter gehen seine Erinnerungen zurück. Er erinnert sich an die monatelange Flucht, daran, wie er in Deutschland ankam, an die ersten Jahre in diesem fremden Land und schließlich auch an die Kindheit im Irak. Aber Said hat Probleme mit seinem Gedächtnis, das im Laufe der Jahre manche Erinnerungen verfälscht hat. Nicht immer kann er sich erinnern und nicht immer ist er sich sicher, ob er sich richtig erinnert – doch vielleicht ist es genau das, was ihn gerettet hat.


Meine Meinung
Khiders „Der Erinnerungsfälscher“ ist zwar nur ein schmales Büchlein von etwa 120 Seiten, doch darin steckt so unglaublich viel. Es werden viele ernste und auch bedrückende Themen und Ereignisse angesprochen, die den Leser nicht wundern lassen, warum der Protagonist dieser Geschichte Probleme mit seinen Erinnerungen hat. Warum er sie zuerst unbewusst und dann ganz bewusst verfälscht. Das Buch erzählt von Krieg, Rassismus, Gewalt, Antiterrorgesetze, Abschiebung und vieles mehr. Dabei schafft es Khider jedoch, dieser Geschichte eine gewisse Leichtigkeit zu verleihen. Nicht alles ist traurig oder schwermütig und ich hatte auch nie das Gefühl, dass es zu viel Inhalt, zu viele Themen für diese wenigen Seiten wäre.

„Der Erinnerungsfälscher“ hat mich zudem über vieles nachdenken lassen. Zum Beispiel über den Artikel im Grundgesetzbuch, dass die Würde des Menschen unantastbar sei. Und trotzdem kommt es immer wieder zu einem würdelosen Umgang mit Ausländern (oder anderen, ich denke da bspw. ganz allgemein auch an ältere Menschen).
Die Bürokratie in Deutschland ist die Hölle, für alles braucht man Papiere, Formulare, Unterschriften und selten sind die Regeln nachvollziehbar. Das ist schon für Deutsche anstrengend und zermürbend, aber für Ausländer ist das noch viel, viel schlimmer. Und dann ist da noch die deutsche Sprache. Seien wir mal ehrlich, Deutsch ist nicht gerade einfach und daher habe ich großen Respekt gegenüber allen, die diese Sprache lernen.
Hinzukommt, dass viele Ausländer mit Anfeindungen und Rassismus zu kämpfen haben.

Khiders Buch ist zwar dünn, aber dicht und gut erzählt. Es regt nicht nur zum Nachdenken an, sondern führt einem auch vor Augen (ohne erhobenen Zeigefinger), wie gut man es hat. Dass man froh sein kann, wenn man eine behütete, schöne Kindheit hatte. Wenn man in einem Land aufwachsen durfte, in dem kein Krieg oder Terror herrscht.
Khiders bewegendes Buch bekommt von mir 4 von 5 Sternen.

„Der Erinnerungsfälscher“ erschien im Januar, also noch vor dem Ausbruch des Ukraine Kriegs. Ich hoffe, man begegnet den Geflüchteten hier in Deutschland (prinzipiell allen Geflüchteten, nicht nur den ukrainischen) mit mehr Respekt und Freundlichkeit. Die meisten von uns können sich vermutlich nicht einmal ansatzweise vorstellen, was diese Menschen durchstehen mussten und noch müssen.


Gewusst?
Im siebten Kapitel erzählt Said von einem Buch, das irgendwie eng mit seinem Schicksal verbunden ist und zwar: „Die Taube“ von Patrick Süskind. Dieses Buch kaufte er einst in Asien, verlor es in Afrika und begegnete ihm temporär in Europa wieder, ehe er es letztendlich für die Uni in Deutschland lesen musste.


Abbas Khider: Der Erinnerungsfälscher
Hanser Verlag, Gebunden, 128 Seiten, 2022
ISBN 978-3-446-27274-3
19,00 €


Rezension und Bilder © Melanie Beck


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