„Die jüngste Tochter“ von Fatima Daas

Kaum war die Shortlist für den Internationalen Literaturpreis des HKW, Haus der Kulturen der Welt, raus, habe ich mir die glücklichen Auserwählten angesehen und fühlte mich am stärksten zu diesem Buch hingezogen. Ich wollte es unbedingt lesen, habe es für die Buchhandlung bestellt, in der ich arbeite, und konnte es mir natürlich nicht nehmen, es selbst zu lesen.
Wunderbarerweise hat Die jüngste Tochter gestern Abend dann vom HKW tatsächlich den Internationalen Literaturpreis verliehen bekommen, sowohl Autorin als auch Über-setzerin Sina de Malafosse wurden hiermit ausgezeichnet, Gratulation!


Fatima Daas ist das Pseudonym der Autorin, welche 1995 in Frankreich als jüngstes Kind ihrer algerischen Familie zur Welt kommt. Ihr Pseudonym ist gleichzeitig auch der Name der Protagonistin in ihrem autofiktionalen Debütroman La Petite Dernière, im Deutschen Die jüngste Tochter. In Frankreich wurde ihre Geschichte schnell ein Bestseller, der von der Presse gerühmt und schon bald in verschiedenen Sprachen übersetzt wurde. Das französische Original der 25-jährigen erschien im August des vergangenen Jahres, die deutsche Übersetzung kam im Mai 2021 bei Claassen Verlag heraus – und wurde gestern Abend ausgezeichnet!


Über das Buch
Ihr Name ist Fatima. Fatima Daas. Sie ist die jüngste Tochter ihrer algerischen Eltern, die nach Frankreich migrierten. Ihre beiden älteren Schwestern kamen noch in Algerien zur Welt, sie in Frankreich. Ihre Eltern hatten sich einen Sohn gewünscht, stattdessen kam sie.
Fatima ist Muslimin und der Glaube ist ein wichtiger Teil ihres Lebens. Sie ist anders als die Mädchen in ihrer Klasse. Sie kleidet sich lieber wie ein Junge und hat auch viel mehr Jungs als Mädchen zu Freunden. Sie fällt in der Schule auf, eckt an. Fatima merkt, dass sie sich zu Frauen hingezogen fühlt, dass sie lesbisch ist, eine Sünde als Muslimin.


Meine Meinung
Die jüngste Tochter nimmt die Leserschaft mit auf Fatimas Lebensweg, von Kindheit zum jungen Erwachsenensein, der jedoch nicht linear erzählt wird. Mal erhält man Eindrücke, kleine Anekdoten, Erinnerungen, in denen die Zeit nicht immer eine Rolle spielt, daher habe ich den antilinearen Verlauf auch nicht als störend empfunden.
Die einzelnen Kapitel erinnerten mich ein wenig an Tagebucheinträge, in denen die Protagonistin erzählt, was sie ihrer Familie nicht anvertrauen kann. Jedes Kapitel beginnt mit „Ich heiße Fatima“, eine Formel, ein Anruf an jemanden. Auch im Koran beginnen die einzelnen Texte mit formelhaften Sätzen, bis auf eine Ausnahme immer mit „Im Namen Allahs“. Der Koran und ihr Glaube sind ein wichtiger Teil von Fatimas Leben und umso heftiger ist der Zwiespalt, den sie empfindet, als sie sich zu Frauen hingezogen fühlt und sich verliebt. Gleichgeschlechtliche Liebe ist eine Sünde in ihrem Glauben.
In diesem Buch geht es aber um noch mehr, um Herkunft bzw. Identität, Familie und irgendwie ist es auch eine Coming-of-Age-Geschichte.
Die Übersetzung ist (ohne das französische Original zu kennen) gelungen, sie ist klar ohne Schnickschnack, eindringlich und lässt sich gut lesen. Die jüngste Tochter ist echt, unerschrocken, modern, auf seine Art poetisch – und ließ mich mehr als einmal fragen, was davon wohl Fiktion ist und was nicht…
Mehr als einmal ertappte ich mich auch dabei, wie ich über das eine oder andere darin den Kopf schütteln musste. Religion ist ein schwieriges Thema, bei dem die Meinungen der Gesellschaft messerscharf weit auseinander gehen können. Und nicht immer wird Verständnis für andere Meinungen oder Religionen aufgebracht. Daas zeigt hier, meiner Meinung nach, auch die Unzulänglichkeiten ihrer Religion auf. Dass gleichgeschlechtliche Liebe verpönt und als Sünde abgestempelt wird. Das ist aber nicht nur die Unzulänglichkeit ihrer Religion, sondern auch die von anderen... Unterm Strich habe ich den Kopf wohl viel mehr über Religionen und eingestaubte Ansichten im Allgemeinen den Kopf geschüttelt, die hier im Buch aufgezeigt werden.
Die jüngste Tochter ist ein beeindruckendes Stück Gegenwartsliteratur, dem ich 4,5 von 5 Sternen gebe.

Auf Arte gibt es aktuell ein kurzes 3-Minuten-Video über Fatima Daas und ihr Buch:


Fatima Daas: Die jüngste Tochter
Übersetzt von Sina de Malafosse
Claassen Verlag, Gebunden, 192 Seiten, 2021
ISBN: 978-3-546-10024-3
20,00 €


Rezension und Bilder © Melanie Beck

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