„Das Flüstern der Bäume“ von Michael Christie

Als ich das Päckchen mit den Leseexemplaren in der Buchhandlung ausgepackt habe, fiel mir besonders dieses Buch ins Auge. Mir hat die Gestaltung des Buchcovers auf Anhieb unglaublich gut gefallen. Diese Farben, die dargestellte Naturszenerie mit den Wäldern und Bergen im Hintergrund – ein wahrer Hingucker, ganz besonders für all jene, deren Herzen den Wäldern und Bergen dieser Welt gehören. Noch bevor ich mich über den Inhalt informiert hatte, war da dieses dringende Bedürfnis es zu lesen! Also nahm ich es mit und habe es nun in den letzten zwei Monaten gelesen. 
Das Buch ist übrigens offiziell seit dem 05. Oktober 2020 in allen Buchhandlungen erhältlich. 


Michael Christie wurde in Ontario geboren, studierte Psychologie und wollte ur-sprünglich professioneller Skateboarder werden. Er arbeitete eine Weile in der Obdach-losenhilfe, ehe er 2011 sein Debüt, The Beggar’s Garden, veröffentlichte. 
Christie lebt heute mit seiner Familie in einem selbst gezimmerten Haus auf der Insel Galiano vor Vancouver, Kanada. Die Insel ist dicht bewaldet und das Zuhause für viele Douglastannen und Zedern. Als er dort auf seinem Grundstück einen Baum fällen musste, sah er sich die Jahresringe des Baumes an und wurde so zu Das Flüstern der Bäume (engl. Greenwood) inspiriert. So wie der Querschnitt eines Baumes mit seinen Ringen von seinem Leben berichtet, Jahr für Jahr, Schicht für Schicht, wollte Christie auch die Geschichte der Familie Greenwood erzählen. Das Flüstern der Bäume ist Christies zweiter Roman und wurde inzwischen mehrfach im englischen Sprachraum nominiert, u. a. für den wichtigsten kanadischen Literaturpreis, den Scotiabank Giller Prize.


Wenn man das Buch aufschlägt, wird man von einem orangefarbenen Vorsatzpapier ins Innere des Buchs eingeladen, auf dem filigrane weiße Ahornblätter gezeichnet sind. Nach dem Titelblatt und einer Seite mit zwei Zitaten gelangt der Leser zu einem eindrucksvollen Bild eines Querschnitts von einem Baumstamm. Auf diesem sind einige Jahreszahlen verzeichnet, die die Stationen dieses Buches markieren. Gleichzeitig markieren sie auch wichtige Momente sowie vier Generationen der Familie Greenwood, um die es in diesem Buch geht, und deren Leben eng mit dem der Bäume und Wälder verbunden ist.

Das Buch beginnt mit der Geschichte von Jacinda (kurz Jake) Greenwood, die im Jahr 2038 auf einer Insel vor der Küste Kanadas als Naturführerin arbeitet. 
Jake lebt in einer Zeit, in der es so gut wie keine Primärwälder mehr gibt. Die größten Waldbestände der Welt fielen dem „Großen Welken“ zum Opfer, bei dem der Großteil der Bäume durch Pilzbefall, Insekten und Dürre vernichtet wurde. Einer der letzten noch existierenden Primärwälder der Welt befindet sich auf eben jener Insel, auf der Jake arbeitet: Greenwood Island, die, wie sie glaubt, nur zufällig den gleichen Namen trägt wie sie selbst. 
Jake weiß nichts über ihren Vater und dessen Familie, deren Familiennamen sie trägt. Eines Tages taucht dann auf der Insel ihr Ex-Verlobter auf und übergibt ihr ein Buch, das angeblich einst ihrer Großmutter väterlicherseits gehört haben soll. 
Auf den folgenden 500 Seiten entfaltet sich die bewegende Familiengeschichte der Greenwoods. Da ist 2008 Jakes Vater, Liam Greenwood, der für reiche Leute wunder-schöne Möbel aus wiedergewonnenem Holz anfertigt. Im Jahr 1974 lernen wir Jakes Hippie-Großmutter kennen, Willow Greenwood, die in ihrem Van das Land unsicher macht, um Holzmagnaten und deren Firmen das Leben schwer zu machen. Für sie ist der Erhalt der Bäume am allerwichtigsten. 
Im krassen Gegensatz dazu steht das Jahr 1934 mit Harris Greenwood, Jakes Urgroßvater, ein erfolgreicher, wenngleich blinder Geschäftsmann und einer der berühmtesten Holzmagnaten des Landes, dem das Leben der Bäume nicht am Herzen zu liegen scheint. Und dann ist da noch sein Bruder, Everett Greenwood, ein Landstreicher seitdem er aus dem Krieg zurückgekommen ist. Der ein ausgesetztes Baby an sich nimmt, später wegen Mord verurteilt wird und jahrelang im Gefängnis einsitzt. Der nächste Stopp ist das Jahr 1909, das die Geburtsstunde der Familie Greenwood markiert, die Wurzel. Es berichtet davon, wie die ungleichen Brüder Harris und Everett zueinandergefunden haben. 
Jahresring um Jahresring, Generation um Generation wird der Leser mit der Familie Greenwood vertraut gemacht und erfährt, wie eng ihr Leben mit dem der Bäume verflochten ist. Der Wald ist hier immer wieder der Schauplatz des Geschehens, er ist Zufluchtsort, ein Ort des Verbrechens und ein Ort des Wunders, wo Unfälle geschehen, Entscheidungen gefällt und Fehler begangen werden.


Das Flüstern der Bäume besticht durch seine unglaublich bildhafte Sprache und den Naturbeschreibungen Christies, die sehr gut von Stephan Kleiner ins Deutsche übersetzt wurden. Mehr als einmal fühlte ich mich übrigens bei diesem Buch an Lundes Die Geschichte der Bienen erinnert, nur, dass es hier eben nicht um Bienen, sondern um Bäume geht. Mal davon abgesehen gelingt es Christie, meiner Meinung nach viel besser als Maja Lunde, seinen Charakteren Tiefe zu geben. Ganz besonders die Geschichte von Everett hat mir sehr gut gefallen und mich gegen Ende sehr ergriffen und bewegt. 
Allerdings, zugegeben, war ich anfangs noch nicht ganz von dem Buch überzeugt gewesen. Gerade bei der Stelle, als Jake das Tagebuch ausgerechnet von ihrem Ex-Verlobten erhält und er sie über ihr scheinbar gigantisches, unverhofftes Erbe informiert, kam mir das zunächst ziemlich unglaubhaft und zu weit hergeholt vor (der Meinung bin ich auch noch immer). Doch an dieser Stelle beginnt der Leser überhaupt erst in die Geschichte der Familie einzutauchen und da packte mich das Buch dann doch (sehr). Selbst wenn es an wenigen Stellen einmal langatmig wurde, so ist es doch ein großartiges Buch, dass ich jedem nur empfehlen kann. 
Von mir gibt es daher 4 von 5 Sternen für diese bewegende Familiengeschichte, die, und das möchte an dieser Stelle betonen, kein Kuschel-Wohlfühlroman ist, sondern eine Geschichte, die einen mitnimmt und bewegt, einen mal nachdenklich oder traurig macht - daher bitte keine falschen Erwartungen! Wer eine leichte Lektüre, etwas humorvolles oder romantisches sucht, sollte da besser nach einem anderen Buch greifen. 

Was ich nachträglich aber noch kritisieren würde, wäre der Titel der deutschen Ausgabe. Tatsächlich finde ich den englischen und ursprünglichen Titel „Greenwood“ wesentlich passender. Denn obwohl Bäume eine wichtige Rolle in diesem Buch spielen, so geht es doch an erster Stelle um die Geschichte der Familie Greenwood und schon allein deswegen wäre der andere Titel einfach treffender.


Abschließend möchte ich noch einmal auf das Thema Baumsterben zurückkommen. Michael Christie zeichnet in seinem Roman eine traurige Zukunft der Wälder, welche durch Klimaerwärmung bzw. extreme Wetterlagen (=Trockenstress) geschwächt werden und so anfälliger für Insektenplagen und Pilzbefall sind. Es kommt schließlich zum Massen-Baumsterben, welche als das „Große Welken“ in Christies Buch einen Namen bekommt. Das ist nicht nur an und für sich schrecklich, sondern hat auch furchtbare Folge für die Menschen. Die Verödung von Land, Sandstürme und vieles mehr. Bäume sorgen nicht nur für unseren Sauerstoff, sondern sie spenden auch Schatten und Schutz. Sie dienen als Windbrecher und halten die Erde zusammen. 
Das grausige Bild, das Christie uns in seinem Roman vorführt, ist gar nicht so weit hergeholt, wie wir es gerne hätte. Schon heute sterben unzählige Bäume, nicht nur durch Rodungen (meist absolut unnötiger Art!), sondern bereits heute haben unsere Bäume und Wälder schwer unter dem Klima und den Insekten zu leiden. 

Vor wenigen Tagen berichtete der SWR über die Lage des Waldes in Baden-Württemberg. 40 Prozent der Fläche des Bundeslandes machen Bäume aus – von denen sind jedoch inzwischen 43 Prozent schwer geschädigt. 
Jeder kann einen kleinen Beitrag dazu beisteuern, die Zukunft des Waldes zu sichern, sei es direkter Art, wie das Pflanzen von Bäumen, oder indirekter, in der ihr mehr darauf achtet, was ihr da eigentlich konsumiert – haben die Holzprodukte, die ihr kauft das PEFC-Siegel, oder nicht? Es ist wichtig, sich zu informieren und gerade in Zeiten wie heute wird es den Menschen einfach gemacht, auch an die entsprechenden Informationen zu kommen! 
Denn man sollte nicht vergessen, nicht nur Tierarten sterben aus – sondern auch Pflanzen und Bäume. 




Michael Christie: Das Flüstern der Bäume
Übersetzt von Stephan Kleiner
Penguin Verlag, Gebunden, 560 Seiten, 2020
ISBN: 978-3-328-60079-4
22,00 €


Rezension und Bilder © Melanie Beck

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